Das großbürgerliche Leben in der Weimarer Zeit
Dieser Eintrag stammt von Dr. Reinhold Bengelsdorf
Nach einem Gespräch mit Ursula Geck, Jg. 1917
Meine Eltern zählten sich sowohl vor dem ersten Weltkrieg als auch noch in der Weimarer Republik zum Großbürgertum. Sie stammten beide aus wohlhabenden Familien und hielten sich - gleich dem Adel - für etwas Besseres, und zwar im Vergleich mit den gewerbetreibenden Kleinbürgern und den Proletariern; zu den Proletariern zählte die Vielzahl der Arbeiter und der Hausangestellten. Meine Mutter hatte sich im Weltkrieg freiwillig zum Dienst als Schwesternhelferin gemeldet und dabei ihren späteren Ehemann kennen gelernt, der bald darauf seine staatliche Zulassung als Gynäkologe/Frauenarzt erhielt. Er richtete sich in einer Blankeneser Villa eine Privatklinik ein mit fünf Betten. Diese Villa blieb für meine Eltern, für meinen Bruder Peter, drei Jahre jünger als ich, und für mich bis 1929 ihr Zuhause.
Meine Eltern hielten den Ersten Weltkrieg für ein Versehen des Schicksals. Dass danach statt des Kaisers ein Proletarier, nämlich der Sattlergeselle Friedrich Ebert, an der Spitze des Staates stand, war für sie unfassbar. Sie wollten zwar nicht unbedingt den Kaiser als Staatsoberhaupt behalten und konnten sich mit der Einführung demokratischer Verhältnisse anfreunden. Mitbestimmung könne aber nicht für jedermann gelten, sie müsse an Besitz und Bildung gebunden sein und bleiben. Die gegenteilige Auffassung der Sozialdemokraten, der "Sozis", wie sie Friedrich Ebert und seine Parteigenossen nannten, lehnten sie rundweg ab. Insofern sahen sie auch in der im Sommer 1919 von der Deutschen Tageszeitung verbreiteten Postkarte "Einst und jetzt !" keinerlei Beleidigung des amtierenden Reichspräsidenten. Die Karte entsprach ihrer Überzeugung: Unter dem Kaiser herrschten Zucht und Ordnung, mit dem Sattlergesellen war alle Sittlichkeit dahin.
(Friedrich Ebert erreichte mit einer Beleidigungsklage die Vernichtung aller nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten veröffentlichten Postkarten und auch der Druckplatten; zu einer Strafe wegen Beleidigung wurde die Deutsche Tageszeitung nicht verurteilt.
Bild aus: Werden und Wirken der PRO-Stiftung/Hamburg von Reinhold Bengelsdorf, 1990, S. 18)
Autoritäre Erziehung
Für meinen Bruder und mich galten von klein auf Befehl und Gehorsam. Erklärungen wurden nicht gegeben und Widersprüche nicht geduldet. Waren wir nicht folgsam, gab es welche hinter die Ohren. Gelegentlich griff meine "Mutter zum Teppichklopfer oder gar zur Reitpeitsche.
Jedes Mal vor einer Begrüßung wurde mein Bruder aufgefordert : "Mach einen Diener!" Wehe ihm, wenn er sich nicht tief genug verneigte. Nach dem Weltkrieg hatten kaisertreue Frontsoldaten den "Stahlhelm" gegründet. In deren Jugendgruppe würde ihr Sohn eine gute Erziehung erhalten, meinten meine Eltern, und sorgten für seinen Beitritt zum "Jungstahlhelm".
Auf der Straße zu spielen, war mir verboten. Wir Kinder besuchten uns gegenseitig in den Familien und spielten dann miteinander. Für uns Mädchen war häufig Handarbeiten angesagt.
Zweimal im Jahr durfte ich ins Kino gehen, "Tom Mix" erinnere ich noch. Taschengeld bekam ich in der Woche 20 Pfennig, und als es erhöht wurde, waren davon Schulhefte und z. B. auch Bleistifte zu kaufen.
Von Aufklärung ihrer Tochter hielten meine Eltern gar nichts, Aufklärungsschriften gab es damals nicht, und noch mit etwa 14 Jahren glaubte ich, durch einen Kuss ein Kind bekommen zu können.
Ein Junge braucht das Abitur
Ein Mädchen hat zu heiraten, Kinder großzuziehen and dem Ehemann den Haushalt zu führen, war die Einstellung meiner Eltern. Deshalb sollte auch nur mein Bruder bis zum Abitur zur Schule gehen und dann studieren. Zwei Studien wollten meine Eltern nicht bezahlen. Für mich genügte der Schulabschluss mit Mittlerer Reife. Bevor die Söhne Wohlhabender ins Gymnasium gehen konnten, besuchten sie zu Kaisers Zeiten nicht etwa eine Volksschule, sie gingen vielmehr in die so genannte Vorschule des Gymnasiums. Die Weimarer Republik hatte diese Vorschulen abgeschafft. Eine Volksschule wollten meine Eltern für ihren Peter dennoch nicht akzeptieren. Deshalb wurde mein Bruder mit einigen anderen Kindern von einer Lehrerin privat unterrichtet. Er hatte sein Grundschulpensum zwar schon nach drei Jahren geschafft, was das staatliche Gymnasium aber nicht anerkannte. Die Klasse 4 musste mein Bruder dann doch noch in einer Volksschule durchlaufen. Meine Eltern hatten mich in einer Privatschule in Othmarschen angemeldet, als ich dann aber Ostern 1923 eingeschult werden sollte, war diese Schule aus wirtschaftlichen Gründen schon geschlossen worden und ich besuchte eine Volksschule. 1927 wechselte ich dann in die Milberg-Realschule, eine Privatschule, in die auch meine Mutter und ihre Schwestern schon gegangen waren. Zu damaliger Zeit mag diese Schule eine hervorragende Mädchenschule gewesen sein, ich dagegen erlebte sie nur mit ständig sinkendem Niveau; der dort herrschende Standesdünkel aber war geblieben.
Ich war eine schlecht geratene Tochter
Als Tochter eines Facharztes in Blankenese zählte ich zu den so genannten Höheren Töchtern, von denen zwar keine Erfolge in Schule und Beruf erwartet wurden, denen aber in der späteren Ehe Repräsentationspflichten oblagen und von denen schon in ihrer Jugend ein ansprechendes Äußeres erwartet wurde. Zum großen Leidwesen meiner Mutter war aber mit mir kein großer Staat zu machen. Ich war von Geburt an kurzsichtig, was mich in meinem Verhalten sehr beeinträchtigte; früh musste ich eine Brille tragen.
Meine Mutter akzeptierte mich leider nicht so, wie ich nun einmal war, und förderte mich auch nicht. Sie beachtete mich wenig und gab all ihre Liebe ihrem Peter. In der Schule war ich gehemmt. Auch fand ich schwer Freundinnen. Ich war eben nicht schlank, wendig und hübsch, wie meine Mutter mich gern gehabt hätte. Das verstärkte wahrscheinlich noch die Enttäuschung meiner Mutter über ihre schlecht geratene Tochter.
Ich war 12 Jahre alt, als mein Vater seine Privatklinik in Blankenese aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben musste und froh war, in Barmbek - einem Proletarierviertel - eine Kassenpraxis übernehmen zu können. Nach den damaligen Bestimmungen musste mein Vater in seiner Kassenpraxis auch nachts erreichbar sein. Aber deshalb nun von Blankenese nach Barmbek zu ziehen, war vor allem für meine Mutter undenkbar.
Wir bezogen eine Mietwohnung in Harvestehude. Dort konnte meine Mutter weiter ihrem Tennisspiel frönen und sich mit anderen Damen zum Bridgespiel treffen. Dafür reichte das Familieneinkommen immer noch. Stets hatte meine Mutter ihr Hauspersonal, in Harvestehude zwar nur noch ein Mädchen, während der Zeit in Blankenese aber insbesondere dadurch einige Hilfen mehr, dass auch das Klinikpersonal für Hausdienste und zur Beaufsichtigung von uns Kindern eingesetzt wurde.
Dienstmädchen arbeiteten damals für Kost und Logis und für ein darüber hinausgehendes nur geringes Entgelt. Frei gab es nur mittwoch- und sonntag-nachmittags, nachdem die Küche in Ordnung gebracht worden war. Meine Mutter stellte zusätzlich das Arbeitszeug, zu dem das Häubchen für den Nachmittag gehörte.
Mir als höherer Tochter oblag keinerlei Hausarbeit, nur gelegentlich half ich einmal beim Geschirrabtrocknen oder putzte auch einmal mein Zimmer. Dass Söhne damals irgendeine Hausarbeit übernehmen könnten, wäre damals völlig undenkbar gewesen.
Obwohl mein Vater seine Arztpraxis in Barmbek hatte, war er regelmäßig zum Mittag- und auch zum Abendessen bei uns: Und wehe, mein Bruder und ich waren nicht pünktlich!
An den Wochenenden war mein Vater stets zu Hause. Wir führten ein normales Familienleben und mein Bruder und ich wuchsen in geordneten Verhältnissen auf, wie ich es damals empfand. Meine Kritik setzte erst viel später ein.
Nach dem Umzug nach Harvestehude freundete ich mich mit den jüngeren Mädchen von Nachbarn an und fand in deren Familie allmählich jene Geborgenheit, die ich in der eigenen niemals erfahren hatte. Ich betüterte die Mädchen wie eine große Schwester und sang mit ihnen an so manchem Sonnabendabend Volkslieder, zu denen die Mutter Klavier spielte. Die älteste Tochter der Familie gab mir Gymnastikunterricht .
Gern erinnere ich mich an die Stunden mit der Nachbarsfamilie, die damals sehr zu meinem Wohlbefinden beigetragen haben.