17_18_09

Das Martyrium Auschwitz

Das Interview wurde von Emily Lasar geführt und von Antje Böker bearbeitet

Wie verlief Ihre Flucht aus Ungarn nach dem Einmarsch der deutschen Truppen?
Nachdem am 19. März 1944 die Deutschen in Ungarn einmarschierten, begab ich mich im April 1944 mit meiner Tante auf die Flucht. Ich habe während dieser Zeit viel an meine Familie denken müssen und sie sehr vermisst. Die Trennung hat mich sehr traurig gemacht. Am 3. November kamen die SS-Offiziere und ich wurde in das KZ Ausschwitz gebracht, aus dem ich am 27. Januar 1945 von den russischen Alliierten befreit wurde.

Haben Sie auf der Flucht Unterstützer gehabt?
Wir hatten bei unserer Flucht die Hilfe von einem jungen, groß gewachsenen Mann, der mich und meine Tante über die ungarisch-slowakische Grenze brachte. In der Slowakei kamen wir für eine Nacht bei ihm und seiner Mutter unter, bis wir mitten in der Nacht wieder losmarschierten. Nach zehn bis elf Stunden Marsch durch den Wald kamen wir in einem kleinen Dorf an. Dort trafen wir auf eine Frau, die mich ohne meine Tante zu einem Rabbiner brachte, bei dem ich mich einige Tage ausruhen durfte. Am vierten Tag wurde ich von dem Rabbiner zu einer Familie gebracht, die eine Tochter hatte. Ich habe mich bei der Familie sehr wohl gefühlt. Nach einigen Monaten in dieser Familie musste ich sie jedoch leider wieder verlassen und kam zu zwei älteren Damen, die sehr streng waren. Im Anschluss daran kam ich zu zwei älteren Zwillingsdamen, Marion und Lillian. Sie lasen mir Märchen vor, weshalb ich sie immer meine „Märchen-Schwestern“ nannte, und ich half ihnen bei der Hausarbeit. Bei ihnen blieb ich, bis die Deutschen kamen.

Was haben Sie gemacht, als die Männer der SS kamen?
In einer Nacht, Mitte September klopfte jemand laut an der Tür und schrie. Es waren die Männer der SS. Sie kamen herein und befahlen uns, in 15 Minuten unsere Sachen zu packen. Eine meiner Märchen-Schwestern kam zu mir ins Zimmer und weckte mich, obwohl ich natürlich schon wach war. Ich packte einen kleinen Stoffbeutel mit meinen Sachen und dann mussten wir auch schon los. An der Tür bemerkte ich, dass ich meine geliebte Puppe im Bett vergessen hatte, aber die SS-Männer erlaubten mir nicht, sie noch zu holen. Eine Vorstellung von dem, was dann mit mir passieren würde, hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht. Natürlich wurde darüber geredet, was angeblich mit den Juden geschah, aber keiner hat glauben können, dass so etwas Schreckliches wirklich passierte.

Wie verlief die Ankunft im Konzentrationslager?
Am Tag, an dem ich in Auschwitz ankam, musste ich die letzten privaten Gegenstände, die ich noch hatte, abgeben. Ich trug einen blauen Anorak, das letzte Teil, das ich noch von meiner Mutter hatte. Eine Aufseherin zwang mich dazu, ihn auszuziehen, und trat ihn beiseite. Das schlimmste Erlebnis war für mich, als die Frau mit einer Schere zu mir kam und mir meine langen, geflochtenen Zöpfe abschnitt. Der letzte Schutz, den ich hatte, wurde mir genommen. Ich bekam dann einen grauen Overall und Holzschuhe, die ich ohne Socken tragen musste.

Was waren Ihre Tätigkeiten?
Meine Aufgabe war es Ziegel zu schleppen, Kies zu sammeln und die Munition zu säubern.

Hatten Sie Freunde oder Unterstützer im KZ?
In Auschwitz ist jeder auf sich alleine gestellt gewesen. Es gab jedoch Stella, eine Frau, deren Tochter erschossen wurde. Sie hat sich meiner angenommen und sich um mich gekümmert. Freundschaften gab es dort allerdings nicht.

Haben Sie versucht zu fliehen?
Aus dem KZ zu fliehen war nahezu unmöglich. Haben es Leute dennoch versucht, wurden sie getötet und zerstückelt auf dem Hof verteilt, um den anderen zu zeigen, was mit einem passiert, wenn man versuchte zu fliehen.

Gab es Momente, in denen Sie gedacht haben, Sie würden die Zeit nicht überleben?
Ja, die gab es. Ich war am Ende so schwach, dass ich bewusstlos wurde. Ich weiß nicht mehr, ob es ein Mithäftling oder ein Engel war, ich erinnere mich nur daran, dass mich jemand mit Schnee fütterte. Irgendwann kamen dann die Russen, um uns zu befreien. Ein behutsam lächelnder Mann nahm mich auf den Arm und brachte mich in ein Lazarett, in dem ich gepflegt wurde.

Wie ist es dazu gekommen, dass sie heute in Deutschland leben?
1954 wurde mein Mann aufgrund seines Jobs nach Frankfurt berufen und das bedeutete für mich, dass unsere Kinder und ich mit ihm nach Deutschland ziehen mussten. Nach zwei Jahren wollten wir als Familie eigentlich nach Ungarn zurückkehren. Allerdings waren wir mittlerweile schon mit vier ungarischen Familien in Deutschland sehr gut befreundet, das war für uns ein Grund, dort zu bleiben.

Was hat Sie dazu bewegt, mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu treten?
1995 wurde ich zu dem 50-jährigen Gedenken an Auschwitz eingeladen. Gemeinsam mit meinen Töchtern bin ich dort hingefahren. Am Abend saßen wir zusammen, ich fing an zu erzählen und merkte, wie es nur so aus mir heraussprudelte und wie gut das Sprechen tat. In gewisser Weise habe ich es auch für meinen Bruder und meine Mutter gemacht, da ich mich ihnen gegenüber verpflichtet gefühlt habe, unsere Geschichte zu erzählen. Seit 2011 spreche ich nun auch vor Schülern, da ich solch eine Art der Auseinandersetzung mit Geschichte besser finde, als nur in Schulbüchern zu lesen. So bekommen die Schüler vor Augen geführt, was für ein Horror in Auschwitz passiert ist.

Warum haben Sie Ihre Geschichte erst so „spät“ veröffentlicht?
Ich habe mich eine lange Zeit nicht dazu bereit gefühlt zu sprechen, weder mit meinem Mann, meinen beiden Töchtern, noch mit Fremden. Um das Erlebte zu verarbeiten, habe ich später auch eine Therapie gemacht.

Haben Sie noch Kontakt zu anderen Überlebenden?
Es gibt ein Treffen, das jeden Mittwochnachmittag stattfindet, bei dem viele Überlebende zusammenkommen und miteinander sprechen.

Haben Sie versucht, herauszufinden, was mit Ihrer Mutter und Ihrem Bruder passiert ist?
Ich habe sehr lange gehofft und gewartet. Mein Onkel sagte immer: „Sie werden sich melden“. 1995 wurde eine Liste mit den Namen der Opfer von Auschwitz veröffentlicht. Die Namen meines Bruders und meiner Mutter waren jedoch nicht darauf. 2016 bin ich mit meiner ganzen Familie, also mit meinen Töchtern und auch meinen Enkelkindern, nach Auschwitz gefahren, obwohl ich mir geschworen hatte, dass ich nie wieder an diesen Ort zurückkehren werde. Meine Enkelin suchte die Listen nach den Namen meiner Familie ab und fand sie auch. Von diesem Zeitpunkt an konnte ich erst richtig trauern.

Frau K. zu Besuch an der Stadtteilschule Bergedorf, im Rahmen der Holocaust-Projektwoche Foto: Emily Lasar

Zurück