Der schreckliche Alltag am Konzentrationslager Neuengamme

Dieser Eintrag stammt von Susann Harke *1989

Ich habe ein Interview mit Frau H. (87 Jahre alt) geführt, die schon ihr Leben lang in Neuengamme gewohnt hat. Sie und ihre Eltern hatten eine Gärtnerei und ihr Land lag direkt an ihrem Haus, an der Dove-Elbe.

Sie erzählte, dass 1938 das Konzentrationslager in einer alten Ziegelei in Neuengamme eingerichtet wurde. Niemand wusste genaues darüber. Erst nach ca. 3 Jahren bekamen die Menschen mit, dass die Häftlinge im Konzentrationslager Schwerstarbeiten verrichten mussten und sehr viele gestorben sind. Keiner konnte glauben, dass Adolf Hitler so etwas Schreckliches mit Menschen machte, denn zunächst glaubten die meisten Menschen an ihn, da es durch geschaffene Arbeit in Deutschland aufwärts ging. Aufgrund seiner protzigen Reden fand Frau H. ihn aber von Anfang an unsympathisch.

Ab 1941/42 konnte Frau H. jeden Morgen die vorbeiziehenden Kolonnen mit den Häftlingen aus ihrem Haus sehen. Eine Kolonne bestand aus 60-80 Häftlingen, die jeden Morgen auf dem Neuengammer Hausdeich zur Arbeit an die Dove-Elbe marschierten. Hier mussten sie die Dove-Elbe verbreitern, begradigen und Ufer befestigen.

Während Frau H. mit ihren Eltern auf dem Land arbeitete, konnte sie oft den Häftlingen beim Arbeiten zusehen. Sie fand den Anblick grauenhaft, denn die Häftlinge waren sehr abgemagert und mussten Schwerstarbeiten verrichten.

Die Häftlinge mussten auf Brettern, die von Schiff zu Schiff oder von Ufer zu Schiff verlegt waren, kniend den Schlamm aus der Dove-Elbe schaufeln. Der Schlamm wurde in Schiebkarren aus den schmalen Brettern zum Schiff gefahren. Die Häftlinge mussten zu jeder Jahreszeit die Arbeiten ausführen, auch bei schlechtem Wetter und eisiger Kälte. Hierbei hatten sie immer nur dünne Arbeitskleidung an, die meistens zu klein oder zu groß war.

Wenn die Häftlinge nicht mehr richtig arbeiteten, wurden sie von den „Kapos“ angetrieben und teilweise auf brutalste Weise geschlagen. „Kapos“ waren Häftlinge, die besonders stark und brutal waren. Dafür, dass sie die Häftlinge antrieben, bekamen sie eine extra Portion Essen. Sie sahen auch immer wohlernährt aus.

„Die „Kapos“ waren viel brutaler und schlimmer als die SS  (Schutzstaffel)-Leute“, meinte Frau H. Ein SS-Mann sagte zu ihr: „Wenn ich geahnt hätte, was hier abläuft, wäre ich niemals zur SS gegangen.“ Die SS-Männer bildeten am Neuengammer Elbufer eine Postenkette (Sie standen in einer Reihe ein paar Meter auseinander). Sie kümmerten sich nicht um die Arbeiten der Häftlinge, sondern sie passten auf, dass niemand weglief. Wenn jemand durch die Postenkette rannte, wurde er erschossen. Auch wenn ein Häftling versuchte ans andere Elbufer nach Curslack zu schwimmen und so zu flüchten, wurde er erschossen. Viele Häftlinge, die durch die Postenkette rannten, taten es mit der Absicht, erschossen zu werden. Diese Häftlinge konnten die schwere Arbeit und das Hungern nicht mehr ertragen. Oft rannten auch junge Männer hindurch. Frau H. sagte: „Wäre ich Häftling gewesen, ich wäre auch durch die Postenkette gerannt. Lieber tot, als so ein Leben. So etwas Schreckliches habe ich in meinem ganzen Leben nicht noch einmal gesehen.“

Sie sah fast täglich, dass Häftlinge flohen. Einmal rutschte ein Häftling aus und wurde daraufhin so brutal von den „Kapos“ geschlagen und traktiert, dass er darauf durch die Postenkette rannte, um sich erschießen zu lassen. Ein anderes Mal stahl ein Junge einem Mithäftling ein kleines Stück Brot. Dieser Junge wurde von ein paar Mithäftlingen durch die Postenkette getrieben und dann von den SS-Männern erschossen. Obwohl die Häftlinge alle das gleiche Schicksal hatten, waren sie zueinander zum Teil gemein und gehässig. Die toten Häftlinge wurden vorübergehend bei Frau H. unter einen Kastanienbaum gelegt. (Dieser Kastanienbaum steht heute noch auf ihrem Grundstück. Bei seinem Anblick kommen ihr die schrecklichen Erinnerungen hoch). Am Nachmittag gegen fünf Uhr marschierten die Häftlinge wieder ins Konzentrationslager. Dabei mussten sie die Toten in Schiebkarren abtransportieren und fröhliche Lieder singen. Abends roch die Luft nach verbranntem Fleisch, da die Toten im Konzentrationslager verbrannt wurden.

Eines Morgens ging Frau H. auf die Toilette, die draußen auf ihrem Hof stand. Von hier aus konnte sie wieder eine Kolonne Häftlinge sehen., die gerade über den Deich zur Arbeit marschierte. Frau H. blieb vor der Toilette stehen, weil die ganze Zeit ein Junge aus der Kolonne auf sie starrte. Als die Häftlinge auf Höhe von Frau H. waren, wollte dieser zu ihr rennen, da er wahrscheinlich dachte, dass die SS- Männer nicht schießen würden, wenn in seiner Nähe eine deutsche Frau steht, die auch getroffen werden könnte. Aber die SS-Männer schossen trotzdem auf den Jungen. Die erste Kugel hätte fast Frau H. getroffen, denn diese flog direkt über ihren Kopf in die Toilettentür. Die restlichen Kugeln trafen den Jungen und töteten ihn vor ihren Augen. Sie stand völlig unter Schock. Die anderen Häftlinge mussten den toten Jungen holen und auf einer Schiebkarre mitnehmen. Niemand entschuldigte sich bei Frau H., da dies als normal betrachtet wurde.

Eines Tages sollte der Nachbar von Frau H. abgeholt und ins Konzentrationslager gebracht werden. Dieser Nachbar trank gerne Alkohol. Danach sang er den Witwen im Dorf ein kleines Ständchen. Niemand störte dies, bis er es auch bei der Gemeindeschwester tat. Die Gemeindeschwester zeigte ihn an, weil sie sich belästigt gefühlt hatte. Darauf wurde er von der SS ins KZ gebracht. Er musste ca. 6 Wochen im Lager arbeiten und danach durfte er wieder nach Hause. Er sprach nie über die Zeit dort. 1-2 Jahre später sollte er wieder ins Konzentrationslager, denn er hörte nicht auf zu trinken. Doch bevor die SS ihn abholen konnte, nahm er sich das Leben, weil es dort wohl so schrecklich war.

Kurz darauf sollte auch der Vater von Frau H. abgeholt werden. Er hatte neben Gemüse noch ein kleines Beet mit Blumen auf seinem Land stehen. Da Blumenanbau im Krieg verboten war, musste er diese sofort rausreißen. Hätte er das nicht gemacht, hätte man ihn verhaftet.

Waggon der Reichsbahn

Zum Ende des Krieges hatte es sich herumgesprochen, dass die Häftlinge im Konzentrationslager nicht nur durch Entkräftung starben, sondern auch getötet wurden. Zufällig sah Frau H. wieder eine Kolonne, die neu angekommen war und vom Bahnhof Curslack zu Fuß über den Deich zum KZ ging. Diese Kolonne bestand aber nicht wie sonst üblich aus Männern, sondern aus lauter Frauen mit ihren Kindern. Zum ersten Mal sah sie, dass auch Frauen ins Konzentrationslager kamen. Sie wusste zu dem Zeitpunkt schon, dass sie dort sicher sterben werden. Eine Frau hatte sogar ein Baby auf dem Arm. Die Frau sah Frau H. flehend an, um ihr das Baby anzuvertrauen. Sie hätte der Frau so gerne geholfen, aber sie hatte zu große Angst und so zog die Kolonne vorüber. Dieses Erlebnis verfolgte Frau H. jahrelang.

Zum Schluss sagte Frau H.: „Hitler wäre nie an die Macht gekommen, wenn es den Menschen vorher nur ein wenig besser gegangen wäre.“

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