Das Kollektive Gedächtnis im NDR

DAS FORUM / THEMA: ZEITGESCHICHTE - NDR Info

Am 14.02.2004 um 19.20 und am 15.02.2004 um 12.30  (Wdh.) sendete der NDR für jeweils eine halbe Stunde ein Feature mit dem Titel: 

Kollektives Gedächtnis
Hamburger Schüler und Senioren schreiben die Lebensgeschichten alter Menschen auf

Redaktion: Hubert Rübsaat

Interview
Die NDR-Redakteurin Solveig Fischer interviewt einen Schüler, der am Kollektiven Gedächtnis mit arbeitet

Vom NDR haben wir ein Sendeprotokoll erhalten, das als PDF vorliegt.

Ein weiteres PDF aus dem November 2003 dient der Darstellung des Kollektiven Gedächtnisses


Schüler lernen mit Senioren

Bergedorf: Jugendliche bekommen lebendigen Geschichtsunterricht - gegen Internet-Kenntnisse.

Von Jule Bleyer 

"Der Beschuss auf unsere Stellungen wurde immer heftiger. Wir wagten kaum, unsere Köpfe aus den Erdlölchern zu stecken. In der Ferne hörten wir Panzergeräusche. Damit stand ein Frontalangriff kurz bevor."

Wenn Heinz Schäffer (77) von seinen Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt, hören die Schüler und die anderen Senioren gebannt zu. Schließlich müssen sie kontrollieren, ob auch alles richtig ist, die Fakten und Zahlen stimmen. Denn die Geschichte von Heinz Schäffer wird im Internet veröffentlicht - damit jeder sie lesen kann.

Individuell erlebte Geschichte für die nachfolgende Generation zu erhalten - das ist die Idee des "Kollektiven Gedächtnisses", einer Sammelstelle von Zeitzeugenberichten im Internet, die im März 2000 entstand. Damals besuchten Senioren zum ersten Mal den Geschichtsunterricht einer zehnten Klasse am Gymnasium Lohbrügge und erzählten aus ihrem Leben. "Diese Berichte haben wir aufgeschrieben und im Internet veröffentlicht", sagt Manfred Schulz (51), Geschichtslehrer am Gymnasium Lohbrügge. Eine Idee war geboren: "Um weitere Berichte ins Internet zu stellen, haben wir ein Redaktionsteam gegründet", sagt Schulz. "Bestehend aus Schülern - und aus Zeitzeugen selbst."

Seitdem trifft sich das Team von elf Schülern und neun Senioren aus dem Haus im Park der Körber-Stiftung, einer Begegnungsstätte von Menschen ab fünfzig Jahren, einmal im Monat, koordiniert die Berichte, prüft sie auf ihre Richtigkeit und veröffentlicht sie im Internet. Das Projekt ist zu einem Teilvorhaben im Förderprogramm der Bund-Länder-Kommission "Lebenslanges Lernen" im "Netzwerk Lernkultur" geworden. "Die Senioren geben ihre persönlichen Erfahrungen wieder, es entwickeln sich lebendige Diskussionen, die die Schüler dazu bringen, noch weiter nachzuforschen", sagt Ute Ising (58), Leiterin der Akademie im Haus im Park.

Wie spannend das sein kann, wissen die Schüler nur zu gut. "Es ist aufregend zu hören, was die Menschen wirklich erlebt haben", sagt Nicole Voß (16). Doch nicht nur die Jugendlichen lernen etwas aus den Zusammentreffen der Generationen. Im Gegenzug helfen die Schüler den Senioren beim Benutzen eines Computers und wie man sich im Internet zurechtfindet. "Ich habe durch das Projekt viel im PC-Bereich gelernt", sagt Ursula Tenne. Die 65-Jährige ist mittlerweile Webmasterin und für die Seite www.kollektives-gedaechtnis.de verantwortlich.

Und wenn es Probleme gibt, springen die anderen ein. "Wir sind ein tolles Team, in dem alle gleichberechtigt sind", sagt Gehrd Fahl (75). Die positiven Erfahrungen möchte die Gruppe weitergeben. "Wir würden uns freuen, wenn sich weitere Gruppen bilden würden", so Lehrer Schulz. "Unser Traum ist ein großes Netzwerk."

Erschienen am 27. Okt 2003 in Hamburg


14./21.Juli 2003

In Hamburg schreiben Schüler die Geschichten alter Menschen auf

Lebensberichte einer anderen Generation im Rucksack

Am Tisch sitzen sechs Jugendliche und sieben Rentner. Auf dem Tisch stehen Kekse und Kaffee , es könnte sich also um eine Familienfeier handeln. Wo sonst begegnen sich die Generationen? Doch während bei solchen Feierlichkeiten oft eine gezwungene Atmosphäre herrscht, in der die Enkel die Kriegsgeschichten ihres Großvaters nicht mehr hören wollen, ist hier alles ganz anders. Interessiert blicken sich Alt und Jung an und warten auf das Startkommando von Herrn Schulz. Energisch tönt seine Stimme durch den Raum: „Es geht also um 24 Texte, über die wir heute zu entscheiden haben!"

Manfred Schulz ist Geschichtslehrer am Hamburger Gymnasium Lohbrügge und hat hier nicht etwa seine Familie versammelt. Es handelt sich um das Redaktionsteam des „Kollektiven Gedächtnisses“, das sich einmal im Monat im Begegnungszentrum „Haus im Park" der KörberStiftung trifft. Dort kommen die Menschen ab 50 genauso hin, wie die Mädchen und Jungen der zehnten Klasse. Komisch findet das hier niemand. Die Kooperation zwischen der Schule und dem Begegnungszentrum gibt es seit drei Jahren.

„Lebenslanges Lernen“ ist das Motto, um das es hier geht, und auch der Name eines Förderprogramms der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Das „Kollektive Gedächtnis" ist Teil dieses Vorhabens, in dem pädagogische Modelle erprobt werden, die lebenslanges Lernen ermöglichen sollen. Es geht um Bildungs infrastruktur, die alle an Lern- und Bildungsprozessen beteiligen und niemanden ausgrenzen will, etwa aus Altersgründen.

Computer und Internet gehören demnach nicht allein Jugendlichen, und erlebte Geschichte ist nichts, was die Älteren für sich behalten sollten. Das war die Maxime, und so entstand vor drei Jahren das „Kollektive Gedächtnis“, in dem die einen ihre technischen und die anderen ihre historischen Erfahrungen weitergeben und so voneinander lernen. Ihre Lebenserinnerungen werden von den Schülern aufgeschrieben. Die Berichte stellen sie gemeinsam ins Internet, nachdem ein Redaktionsteam über ihre Tauglichkeit entschieden hat. Seitdem gehört die Idee zum Lehrplan der zehnten Klassen von Manfred Schulz. Nur das Redaktionsteam arbeitet außerhalb des Plans. Langfristig soll auf diese Weise ein kollektives Gedächtnis für Bergedorf und Lohbrügge aufgebaut werden.

Den Geschichtsunterricht auf diese Weise zu gestalten, ist ganz im Sinne der Schüler. Etwas über Staatsmänner zu lernen ist ja gut und schön, aber hier geht es um ganz normale Leute. „Das ist viel anschaulicher als ein Lehrbuchtext", begründet der 16-jährige Fabrizio seine Motivation. Auf der anderen Seite wollen die Älteren das Internet kennen lernen und ihre Erfahrungen an junge Menschen weitergeben: „Die eigenen Kinder nehmen das ja oft nicht so auf, Fremde interessieren sich da schon eher", meint Frau Tenne, die 65-jährige „Webmasterin“ der Gruppe. Jedes Redaktionsmitglied liest an diesem Montag einen Lebensbericht nicht länger als drei Seiten. Das Arbeitspensum ist groß und eigentlich zu groß für zwei Stunden. „So, kurze Lesepause, und dann bitte Kommentare zu den Texten", gibt der Projektleiter Schulz gewohnt energisch das Tempo vor. Frau Stein hat den Bericht eines Soldaten gelesen, beziehungsweise das, was ein Schüler daraus gemacht hat und ist gar nicht zufrieden: „Also, das ist mir viel zu konfus und sprachlich nicht gut. Die Sätze fangen alle mit „dann" und „denn“ an und sind nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Details. Punkt und Komma sind auch falsch." Nicht jeder könne Literatur schreiben, entgegnet Frau Zander. Während sich das Team noch uneins ist, ob der Text ins Netz gestellt werden soll, verlangt Herr Schulz eine Entscheidung: „Was machen wir denn nun damit?" Schließlich einigt man sich darauf, dass er umgeschrieben werden müsse. Nicole hat einen Text gelesen, den ein Schüler über seine eigene Oma geschrieben hat, weshalb er auch schlicht „Meine Oma“ heißt: „Also, das ist irgendwie ganz komisch, der Text geht von der Geburt bis zum Tod und ist mehr so ein Lebenslauf in Kurzform. Das hat alles nichts miteinander zu tun." Nicht nur Nicole, auch ihr Geschichtslehrer ist kritisch und findet : „Also, „Meine Oma“ ist keine Überschrift".

Während die Senioren stilistische Anmerkungen haben, verstehen die Jugendlichen manche Erinnerungen nicht. Ihnen ist fremd, was ihren älteren Redaktionskollegen aus eigenen Erlebnissen vertrauter ist. „Da wird gesagt, dass das Verhältnis von Eltern und Kindern anders war, aber wie „anders" erfährt man nicht", kommentiert Fabrizio einen Bericht über die Kinderlandverschickung während des Nationalsozialismus. Im Gespräch über die Texte findet eine Annäherung statt, können Unklarheiten beseitigt werden. „Es geht darum zu versuchen, eine Umgebung herzustellen, die diese Neugierde weckt, die dieses „Weiterfragen" anstößt", erklärt Manfred Schulz die Intentionen.

Dass innovative Projekte wie diese oft gegen die Strukturen, auf die sie gerichtet sind, anrennen, erfahrt er immer wieder. Die Schüler für das zusätzliche Engagement im Redaktionsteam von anderen Schulstunden zu befreien, sei schwierig. Im engen Korsett von Lehr- und Stundenplänen ist dafür kein Platz. Eine Initiative wie das „Kollektive Gedächtnis" funktioniert da nur durch zusätzliches, persönlic hes Engagement, nicht nur von Schülern. Viele Kollegen sehen sich dazu angesichts von zwei Stunden Geschichtsunterricht in der Woche nicht in der Lage: „Der Zeitgeist besteht im Abarbeiten von Lehrplänen. Ich renne gegen Zeit- und Raumstrukturen an, die nicht flexibel gestaltet sind. Die Schule hat diese Flexibilität nicht."

Als es an diesem Montag darum geht, Texte Im HTML-Format zu erstellen, sagt Berit: „Na, dann müssen wir mal einen HTML-Kurs machen.“ Ihren Lehrer freut es: „Na bitte, da ist doch der Wille zum Lernen.“

Claudia Hein